Über Jahre schon vernehmen wir Wehmut und Klagen vieler Chöre, dass junge Menschen tradierten Chorgemeinschaften fernblieben und nicht mehr singen wollen. Es sei, dieser Meinung weiter folgend, absehbar, wann unsere Chöre aussterben würden. Fragt man nach der Ursache, so folgen dann die unterschiedlichsten Schuldzuweisungen.
Andererseits aber formieren sich jährlich hunderte Kleinensembles in allen Chorgattungen (siehe beispielsweise ACC in Sendenhorst), zigtausend Jugendliche kämpfen um einen Platz bei Castingshows und nehmen größte Anstregungen auf sich, weil sie dort vorsingen wollen.
Wie sind diese beiden Thesen miteinander vereinbar? Warum gehen junge Menschen nicht mehr in gestandene Chöre, obwohl sie sich für den Gesang interessieren und diesen offensichtlich auch öffentlich präsentieren wollen?
Ich möchte versuchen, nachstehend aus meinen Beobachtungen und Erfahrungen als Chorleiter eine Antwort zu finden. Hierzu, bevor ich mich den jungen Menschen zuwende, gilt es eine kleine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Diese mag sicher nicht auf alle Chorgemeinschaften zutreffen, aber doch für viele Gültigkeit haben.
Nehmen wir den Männergesangverein XYZ, der heute mit vielleicht 20 oder 25 Sängern in einem Durchschnittsalter von fünfundfünzig Jahren versucht zu überleben. Allen in diesem Chor ist klar: Sollten nicht bald jüngere Männer zu uns kommen, können wir uns ausrechnen, wann unsere Chorgemeinschaft nicht mehr existiert. Noch vor zwanzig Jahren hatte der Chor die doppelte Anzahl von Sängern und nach und nach starben ältere Sänger, während andere aus beruflichen Gründen den Wohnort wechselten usw. usw.. Hin und wieder verirre sich ein Vierzigjähriger zu uns; kam aber nach einer Probe nicht mehr wieder. Spricht man mit dem musikalischen Leiter dieses Chores, so macht sich auch dort Resignation und Ratlosigkeit breit. Man habe in den letzten Jahren doch so schöne Konzerte gegeben mit wirklich abwechslungsreichen Programmen: „Von der Klassik bis zum Volkslied“, „Der Männerchor um Franz Schubert“, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Man pflege in diesem Chor das deutsche Volkslied, einem Erbe deutscher Geschichte. Aber auch der Zuschauerzuspruch zu Konzerten des Männergesangvereins XYZ würde immer geringer und es bedürfe einer großen Anstrengung der Sänger, Karten zu verkaufen. Auf meine Frage, ob der Chor oder auch der Chorleiter schon einmal an Weiterbildungsmaßnahmen des Chorverbandes teilgenommen habe oder sich einmal Gedanken zu internationaler Literatur gemacht hätten, kamen zugleich Ausreden wie: Unser Chorleiter ist ein qualifizierter Fachmann und die Sänger folgen ihm. Er habe den Überblick über die zu singende Literatur und ist auch für alles musikalische zuständig. Er brauche, wie er auch selber feststellte, keine Hinweise von außen. An Leistungs- oder Beratungssingen brauche der Chor nicht teilzunehmen, er, der Chorleiter, sei Fachmann genug um zu wissen, wie man Chorarbeit zu leisten habe; dazu brauche er so etwas nicht. Er habe schließlich vor vierzig Jahren ein Examen abgelegt und diesen ausländischen Quatsch würde er mit seinem Chor nicht singen; das sei minderwertige Literatur.
Fassen wir zusammen: Sowohl Chor als auch Chorleiter sind fortbildungsresistent und nicht bereit sich dem Wandel der heutigen Gesellschaft in vielerlei Hinsicht anzupassen. Man besteht auf deutschem Kulturgut, weil der Chorleiter dies vorgibt und suggeriert. Innovation und neue Konzepte, die vielleicht etwas verändert könnten, werden agbelehnt ebenso wie die Möglichkeit, das eigene Leistungsniveau zu verbessern. Das dies selbst den Zuhörern aufgefallen ist und sie deshalb die Konzerte nicht mehr besuchen, wird ignoriert.
Was aber ist mit den jungen Menschen?
Bei jungen Menschen hat das Singen wieder Konjunktur. Hunderttausende melden sich zu Castingshow’s und wollen mit Gleichaltrigen um einen Platz im Recall wetteifern. Viele Boygroups und Girlgroups bilden sich, kleine und größere Vocalensembles gründen sich mit unterschiedlichsten stilistischen Ausrichtungen. In all diesen Bereichen ist ein absoluter Leistungsgedanke angesagt, um ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen. Organisatorische Gemeinschaftsstrukturren werden in einer Comunio behandelt und gelöst.
Hinsichtlich Programmgestaltung wird versucht, dem zu erwartenden Publikum gerecht zu werden indem man Literatur mit einem hohen Wiedererkennungswert aussucht oder sich zu Projekten zusammenschließt, um große sinfonische Werke aufzuführen.
Junge Menschen wollen singen!
Sie wollen sich nicht veralteten Strukturen unterwerfen.
Sie wollen nicht mit fortbildungsresistenten Chorleitern zusammenarbeiten.
Sie wollen sich nicht oktruieren lassen, was sie zu singen haben oder nur das deutsche Volkslied zu pflegen.
Sie wollen leistungsorientiert arbeiten und ihre Leistungen objektiv überprüfen lassen.
Ich erlebe dies in meinen Chören Woche für Woche. Nur in der letzten Woche haben sich 42 junge Menschen in Form von Schnupperproben für meine Chöre interessiert, die für das erste Halbjahr 2008 sich mit Musical sowie Oldies der 60er und 70er Jahre beschäftigen. Ausreden, warum das in anderen Chören nicht geht, kann ich für meinen Teil nicht mehr hören, weil sie einfach nicht stimmen. Sofern Ihnen Chorleiter etwas anderes erzählen, liegt das daran, dass sie diese Musik entweder nicht kennen, nicht musizieren können oder nicht wissen wo es sie gibt und wie man damit umgeht. Ich lade Kollegen sowie Sängerinnen und Sänger herzlich gerne zu meinen Proben ein und berate Sie, wenn Sie es wollen. Nur einen Satz werden Sie bei mir nicht hören: „Das wollen meine Sängerinnen und Sänger nicht!“
Wir kennen die Wünsche. Reden wir uns nicht schön, sondern stellen uns darauf ein und wir werden eine Renaissance erleben, wie wir noch nie eine erlebt haben. Eine andere Chance gibt es nicht.
Carolin Berresch 25. Januar 2008
Hallo Herr Roosen,
in diesem Artikel steckt viel Wahrheit. Aus der Entfernung verfolge ich Ihre Arbeit schon über einen längeren Zeitraum und sehe auch an dem Beispiel „Chant du choeur“ als auch „Cantare Repelen“, was Innovation bewirken kann.
Ich würde mir wünschen, dass es weniger fortbildungsresistente Chorleiter/innen gäbe und das so mancher Chorvorstand zu neuen Ufern aufbrechen würde. Mir ist bewußt, dass dies ein offensichtlich sich nicht erfüllender Wunsch ist. Schade!
Lassen Sie sich aber nicht entmutigen in Ihrem Engagement für die Chormusik weiterzumachen.
Herzliche Grüße Ihre
Carolin Berresch
Frank Montillon 30. Dezember 2008
Guten Tag Herr Roosen,
zufällig bin ich hier auf diesen Beitrag gestoßen. Sie haben sicherlich in vielem Recht was sie oben anführen, ähnliches habe auch ich in meiner über 25 jährigen Chorleitertätigkeit beobachtet.
Ich denke aber, dass es nicht nur die mangelhaft und oft nicht über zeitgemäße, moderne Männerchorliteratur informierte Chorleiter sind, die an diesem Problem sicherlich mitschuldig sind, leider sind es auch sehr oft die Männer selbst in solchen Männerchören, die oft überhaupt nicht bereit sind, sich auch nur um einen Millimeter zu verändern. Wenn dann doch mal sich neue, jüngere Sänger in solch einen Chor verirren, dann müssen diese natürlich die Strukturen und Gegebenheiten der „alten“ übernehmen. Wagt sich dann mal so ein jüngerer „Neusänger“ eine kleine Kritik, oder einen Veränderungsvorschlag vorzubringen, dann heißt bei den „alten“ oft:
„Was will dann der überhaupt, soll er doch erst mal so lange singen und im Verein sein wie ich, und ich bin jetzt schon über 35 Jahre hier dabei.“
Was ich sagen will ist, dass es leider oft die Sänger in solchen Männerchören selbst sind, die Veränderungen blockieren. Wagt es dann mal ein Chorleiter etwas zu verändern, oder moderne, anders arrangierte Chormusik jenseits der „verSilcherten“ und „terzverseuchten“ sogenannten Romantischen Chormusik im Chor zu probieren, kriegt er oft gleich die Reaktion, dass viele der älteren Sänger schlicht und ergreifend nicht mehr zur Probe erscheinen und so die Chorarbeit – meist erfolgreich – blockieren, oder (bei den heutigen Besetzungen von meist um die 20 Sänger) fast unmöglich machen. Also bleibt man in seinem alten Trott.
Überleben werden sicherlich nur solche Chöre, die von solch anerkannt und ausgewiesen qualifizierten Chorleitern wie Ihnen geleitet werden und wo man solche Veränderungen auch dann akzeptiert. Jedoch die Mehrheit unserer Männerchöre – und hier speziell die auf dem Lande – werden in den nächsten 5 Jahren sicherlich auch Altersgründen ihren Singstundenbetrieb einstellen müssen. Bei uns in der Gegend hat dies leider schon begonnen.
Auch eine gewissen Mitschuld haben aber auch manche Chorverbände, deren „Führungs-Funktionäre“ oft auch keinen Veränderungswillen haben, und zu oft gerne auf dem bisher Bewährtem verharren, das ist ja so bequem. Sich aber dann bei Verbandstagungen lauthals beschweren, die Jugend will ja nicht singen!
Auf meiner Homepage habe ich auch einen Bericht über die Zukunft der Männerchöre aus meiner Erfahrung heraus geschrieben.
Viel Erfolg weiterhin bei Ihrer Arbeit.
Mit freundlichen Grüßen
Frank Montillon
Chorleiter
Nofftze, Klaus-peter 26. Juni 2012
Hallo Herr Roosen,
auch ich bin ein Sänger von 60 Jahren, und kann nur zustimmen. Ich habe immer gesagt die Hauptaufgabe eines vorstandes ist “ Neue Sänger braucht das Land“. Ich bin gescheitert. Der alte Vorstand organisiert lieber Reisen als das Thema anzupacken. Ich hatte auch bei der FH Heide/Holstein eine Diplomarbeit schreiben lassen, die sich mit den Chorgesang beschäftigen sollte. Das Fazit war, wie von ihnen und Herrn Montillon geschildert. Ich denke mal, wir werden unseren Chor zu Ende bringen, und irgend eine Gruppe von jungen Leuten wird feststellen, singen ist schön. Was sie singen ist egal, aber sie werden singenLieder.
Viele Grüße
Klaus-Peter Nofftze
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